Verzögerte Suizidalität?

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Verzögerte Suizidalität?

Wie die COVID-19-Pandemie die Suizidgedanken und das Suizidverhalten junger Menschen in Luxemburg beeinflusst hat

Lea Schomaker, Robin Samuel

Die Suizidalität von Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Luxemburg veränderte sich während der Pandemie nicht wesentlich. Grund zum Aufatmen ist das allerdings nicht: Die aktuellen Daten aus dem Youth Survey Luxembourg weisen auf eine Zunahme von Gefühlen der Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit hin, die häufig ein Vorbote von Suizidalität sein können. Zusätzlich erklären Forscher*innen, dass sich höhere Suizidraten häufig erst mit einer Verzögerung nach Ende von Krisen abzeichnen. Verzögerte Suizidalität?

Die COVID-19-Pandemie löste in Luxemburg eine öffentliche Debatte über psychische Gesundheit und Wohlbefinden aus. Junge Menschen, vor allem in der Pubertät, sind besonders anfällig für psychische Probleme. So hat sich während der Pandemie die Befürchtung verstärkt, dass die Zahl der Suizide unter jungen Menschen zunehmen könnte. Da die Kontaktbeschränkungsmaßnahmen das Leben junger Menschen erheblich beeinträchtigten, wurden Bedenken lauter, dass die Pandemie die Suizidalität junger Menschen in Luxemburg verstärken könnte (siehe hierzu auch: Glücklich in Zeiten von COVID-19?).

Dieser Policy Brief soll empirische Belege für diese Debatte liefern. Basierend auf dem Bericht „Suizidgedanken und -verhalten Jugendlicher und junger Erwachsener in Luxemburg. Zeigen sich Effekte der Covid-19-Pandemie?“ (Schomaker & Samuel 2022) beschreiben wir die Veränderungen bei den berichteten Suizidgedanken und -verhaltensweisen zwischen 2019 und 2021. Darüber hinaus untersuchen wir den Zusammenhang zwischen Suizidalität und Gefühlen der Traurigkeit und identifizieren besonders gefährdete Gruppen in der jungen Bevölkerung Luxemburgs.

Was ist unter Suizidalität zu verstehen?

Suizidalität umfasst eine Reihe von Verhaltensmustern, darunter Suizidgedanken, Suizidplanung und Suizidversuche, die in den letzten 12 Monaten mindestens einmal unternommen wurden. Der Begriff Traurigkeit beschreibt in diesem Policy Brief das Gefühl von Traurigkeit oder Hoffnungslosigkeit in mindestens zwei aufeinander folgenden Wochen während der letzten 12 Monate.

Suizidalität vor und während der COVID-19-Pandemie

Nach Angaben der Direction de la santé gab es im Jahr 2019 insgesamt 10 Suizide in der Altersgruppe der 15-29-Jährigen. Für das Jahr 2021 liegen bisher keine Daten vor, so dass zu diesem Zeitpunkt noch keine Rückschlüsse auf die Veränderung der Suizidrate gezogen werden können (Weber et al. 2021).

Verzögerte Suizidalität?

Unseren Ergebnissen zufolge lag der Anteil der jungen Menschen in Luxemburg, die in den letzten 12 Monaten zum Befragungszeitpunkt einen Suizid in Erwägung gezogen haben, zwischen 8 % (2019) und 9 % (2021); es planten 3 % (2019) bis 4 % (2021) einen Suizid; es unternahmen 2 % einen Suizidversuch und etwa 0,4 % wurden aufgrund ihres Suizidversuchs ärztlich behandelt (siehe Abbildung 1).

Insgesamt zeigen die aktuellen Daten aus YSL (2019) und aus YAC (2021) keine statistisch signifikanten Verschiebungen – weder bei Suizidgedanken noch bei Suizidverhalten – zwischen der Situation vor der Pandemie im Jahr 2019 und während der laufenden COVID-19-Pandemie im Sommer 2021.

Veränderungen sind jedoch bei den Auswirkungen von Alter und sozioökonomischem Status (SES) auf die Suizidgedanken zu erkennen. Im Vergleich zu 2019 haben sich die Unterschiede nach SES im Jahr 2021 in allen Altersgruppen vergrößert. Befragte mit niedrigem SES haben über alle Altersgruppen hinweg häufiger einen Suizid in Erwägung gezogen als Befragte mit mittlerem oder hohem SES.

Zusammenhang zwischen Traurigkeit und Suizidalität

Wir konnten einen starken Zusammenhang zwischen empfundener Traurigkeit und Suizidgedanken sowie Traurigkeit und Suizidplanung feststellen. Dies deutet darauf hin, dass langanhaltende Traurigkeit ein Warnzeichen für Suizidalität sein könnte.

Verzögerte Suizidalität
Abbildung 2: Prozentuale Verteilung der Befragten, die langanhaltende Traurigkeit empfunden haben, nach Geschlecht, Alter, SES und Migrationshintergrund (2019 und 2021).

Wir stellen fest, dass die Anzahl der Befragten, die sich traurig und hoffnungslos fühlten, zwischen 2019 und 2021 in nahezu allen Untergruppen von Geschlecht, Alter, SES und Migrationshintergrund signifikant anstieg. Darüber hinaus stellen wir fest, dass junge Mädchen und Frauen im Vergleich zu ihren männlichen Altersgenossen eine signifikant höhere Wahrscheinlichkeit hatten, anhaltende Traurigkeit zu erleben. Dieser Effekt war im Jahr 2021 stärker ausgeprägt als noch im Jahr 2019.

Einige Studien haben jedoch eine widersprüchliche Beziehung zwischen Geschlecht und Suizidalität festgestellt: Während Suizidgedanken und -versuche bei weiblichen Jugendlichen häufiger vorkommen, weisen männliche Jugendliche höhere Raten abgeschlossener Suizide auf. Einige Forscher*innen argumentieren, dass dieses Paradox mit der höheren Prävalenz von externalisierenden Störungen (z.B. Risiko- und Gewaltbereitschaft; Drogen- und Alkoholkonsum) als auch weniger protektiver Verhaltensweisen bei männlichen Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Vergleich zu weiblichen Peers zusammenhängt. Dies sollte bei der Entscheidung über Präventionsmaßnahmen berücksichtigt werden.

Auch nach Alter und SES zeigen sich Verschiebungen: Während 2019 die Unterschiede in Bezug auf das Gefühl der Traurigkeit nach Alter und SES noch gering waren, zeigen die Daten aus 2021 deutliche Unterschiede zwischen Befragten mit niedrigem, mittlerem und hohem SES. Dies deutet darauf hin, dass die COVID-19-Pandemie die soziale Ungleichheit weiter verstärkt und gefährdete Gruppen noch anfälliger gemacht hat.

Da die wahrgenommene anhaltende Traurigkeit mit dem Vorkommen von Suizidgedanken und -plänen korreliert, sollte dieser Zusammenhang ernst genommen und weiter beobachtet werden. Darüber hinaus zeigen internationale Forschungsergebnisse, dass sich Krisen erst mit einer gewissen Verzögerung in suizidalem Verhalten niederschlagen. Um auf eine Verschlechterung der Situation rechtzeitig und mit geeigneten Instrumenten reagieren zu können, ist die weitere Beobachtung und Erforschung des Suizidverhaltens von jungen Menschen von größter Bedeutung.

Politische Empfehlung: Psychosoziale Fachkräfte stärken und Dienste ausbauen

  • Die Verfügbarkeit und der Zugang zu psychosozialen Fachkräften und Diensten muss niedrigschwellig sein und ausgebaut werden. Dabei sollten die unterschiedliche Prävalenz und Anfälligkeit von sozialen Gruppen (z. B. junge Frauen, niedriger SES) berücksichtigt werden.
  • Lokale Aktivitäten zur Suizidprävention sollten langfristig und nachhaltig sein, damit sie die Kontinuität und Konsistenz der Angebote gewährleisten.

Zitiervorschlag

Schomaker, L. & Samuel, R. (2022). Verzögerte Suizidalität? Wie die COVID-19-Pandemie die Suizidgedanken und das Suizidverhalten junger Menschen in Luxemburg beeinflusst hat. Jugend in Luxemburg. https://www.jugend-in-luxemburg.lu/verzoegerte-suizidalitaet

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https://doi.org/10.17605/OSF.IO/SF4J5